Die barocke Kirche - Einsichten ins Unsichtbare

Predigt von Pfarrer Dr. Klaus Winterkamp am 2. Weihnachtstag zur
Sanierung der Liebfrauenkirche

Heute geben alle dasselbe, liebe junge und erwachsene Christen, Jesus, Stephanus, Johannes, Mozart: sie alle geben Einsichten ins Unsichtbare.

Stephanus verdankt seine Einsicht der Eroberung Jerusalems durch Titus und der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. Dieses Ereignis, das das Judentum bis ins Mark traf, steht im Hintergrund der Vorkommnisse, die die Apostelgeschichte vom Erzmärtyrer berichtet. Insofern erklärt sich der Vorwurf seiner Gegner, Stephanus habe immer wieder gegen den Tempel gelästert und von seiner Zerstörung gesprochen. Diese Anklage war frei erfunden. Dennoch – und das ist der andere historische Kern dieser Schilderung – dennoch spielten in der Zeit nach Jesu Auferstehung Kultphänomene oder rituelle Fragen gar keine Rolle. Denn der Tempel hatte für die ersten Christen nach Jesu Durchgang durch Leiden, Sterben und Auferstehen im Grunde keine entscheidende Bedeutung mehr. Der Ort Gottes ist nicht mehr der Tempel aus Stein, sondern dort, wo der erhöhte Herr lebt. Die Stätte der heilsschaffenden Gottesgegenwart ist der in seiner Erhöhung zum Vater verherrlichte Christus. Er wird zum eschatologischen, d. h. zum endzeitlichen Tempel Gottes, der eben nicht nur in Jerusalem, sondern in aller Welt verehrt werden kann. Bei seinem Tod – so schildert es der Evangelist Matthäus – zerreißt der Vorhang im Tempel von Jerusalem. Das Alte ist also vorbei, das Neue hat begonnen. Trennende Wände – nicht nur die zwischen Juden und Heiden – sind damit niedergelegt und der universale Tempel geschaffen, der allen Völkern weit offen steht und Heimat verheißt. Mit Jesus – so macht Stephanus in seiner Vision deutlich – hat ein neuer Tempelkult begonnen, ein neues Zeitalter der Gottesverehrung, in dem er „im Geist und in der Wahrheit“ (Joh 4,23f.) angebetet wird. Wer das tut, dem steht wie Stephanus der Himmel überall offen, der hat wie er die Einsicht, dass sich sein Leben bei Gott wirklich vollendet.

Projekt Sanierung Liebfrauenkirche BocholtGenau so, als Ausgangs- und Vollendungspunkt des Lebens, erscheint Jesus Christus auch in der Geheimen Offenbarung des Sehers Johannes. Auch in dieser Sicht ist er gemeinsam mit seinem Vater der Tempel in der heiligen Stadt, dem himmlischen Jerusalem, einen anderen gibt es nicht. Dieses himmlische Jerusalem meint nichts anderes, als das Gott für uns Menschen zum unmittelbaren Erlebnis wird. Er wird uns rundum beschützen – dafür stehen die Mauern dieser Stadt –, er wird unser ganzer Reichtum sein – darum ist sie nur mit den kostbarsten Edelsteinen vergleichbar –, und er wird unsere totale Freiheit werden – deshalb ist sie von universaler Weite, die allen offen steht. Eine vollkommenere und glücklichere Welt ist nicht denkbar.

Unsere Liebfrauenkirche will uns schon jetzt, in dieser Welt, in unserem ganz alltäglichen Leben an diesem endzeitlichen und ewigen Erlebnis Gottes teilhaben lassen. Obwohl an sich für jeden Kirchbau gilt, dass er unseren Blick auf das himmlische Jerusalem lenken will, ist es für eine barocke, bzw. neubarocke Kirche wie die unsrige das bestimmende und kennzeichnende Charakteristikum, Einsichten ins Unsichtbare zu schenken. In der barocken Kirche bricht das himmlische Jerusalem in den irdischen Kosmos ein und absorbiert ihn sozusagen, nimmt ihn in sich auf. Oft werden die Decken durch Malerei in den mit strahlendem blau-weiß gezeichneten Himmel hinein verlängert, die Begrenzung des Raumes wird scheinbar aufgehoben, die Perspektive weitet sich in die Unendlichkeit und es ist jedem Eintretenden gestattet, dasselbe wie Stephanus eben in der Lesung zu tun: in den geöffneten Himmel zu blicken und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen zu sehen. Drumherum wimmelt und wirbelt es zumeist von Engeln und Putten, von Heiligen und Seligen, die ekstatisch verzückt und jubilierend entrückt die göttliche Dreieinigkeit preisen. Bis zu den Bombentreffern im Krieg gab auch die Decke in dem zwischen 1786 und 1792 erbauten hinteren Teil unserer Kirche einen Blick frei in das Leben und Wirken des hl. Liudger, des ersten Bischofs von Münster. Doch nicht nur die Deckenfresken, der gesamte barocke Kirchenraum dient der Verehrung der Majestas Domini, der göttlichen Majestät und wird als himmlischer Thronsaal gestaltet, innerhalb dessen der Tabernakel mit dem in der Eucharistie gegenwärtigen Herrn den eigentlichen Thron bildet.

Wer in eine solche Kirche eintritt, soll sich wie im Himmel selbst fühlen – soweit wir Menschen uns überhaupt vorstellen können, was Himmel für uns bedeuten wird. Die barocke Kirche mit ihren oft unzähligen Heiligenfiguren, Seitenaltären, Bildern und Gemälden ist der ebenso kecke wie verspielte Ausgriff gottseliger Christen, die endgültige Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes für uns Menschen und die Welt – kurz himmlisches Jerusalem genannt – anschaulich und handgreiflich zu machen. Solch eine Kirche will im Menschen die Sehnsucht nach dem Himmel, nach Gott selbst wach halten. Sie will ihn mit einer teils ins Übersinnliche hinein gesteigerten Sinnenhaftigkeit ins Göttliche emporreißen und überwältigen. Der barocke Kirchenbau ist nicht einfach nur Abbild, er ist Angeld, Unterpfand, Verheißung der himmlischen Herrlichkeit, ja er ist der Himmel auf Erden. Hier wird das himmlische Jerusalem mit seinen Ewigkeitshoffnungen nicht einfach nur dargestellt, hier wird es Wirklichkeit, hier wird es gegenwärtig.. Die von mancherlei Problemen, Sorgen und Querschlägen des Lebens gezeichneten Menschen, die in diese „Wohnung Gottes unter den Menschen“ eintreten – wie es in der Offenbarung heißt –, sollen dieselbe Zuversicht und Gewissheit gewinnen, die auch den Seher des himmlischen Jerusalem beflügelte als er niederschrieb: Gott „wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mach alles neu“ (Offb 21,3).

Das ist nicht einfach Vertröstung aufs Jenseits, billiger Trost oder Ablenkung von harter Alltagswirklichkeit. Der barocke Kirchbau will vom Diesseits keineswegs ablenken, ganz im Gegenteil: Das Jenseits wird gerade in den Farben des Diesseits verlockend, verführerisch gemalt. Ein Blick auf die Engel-, Heiligenbilder und -figuren jener Zeit – z. B. auf das Hochaltarbild oder die Apostelfiguren – genügt. Das sind keine unzugänglichen, zu bloßen Chiffren erstarrte Symbolfiguren (wie das dann im 19. Jh. der Fall wird). Das sind in Gesten und Gewändern stark bewegte Menschen mit durchaus individuellen Zügen. Sie sind diesseitige, für die damalige Zeit auch körperlich ideale Frauen- und Männergestalten, die – mit schwellenden Leibern – sinnenfreudig und schön anzusehen, selbst im ärgsten Martyrium noch ne gute Figur abgeben.

Das ist ja im kirchlichen Bereich überhaupt erst das Große und bleibend Bedeutsame dieser Stilepoche des Barock. Der Versuch nämlich, das Ganze der irdischen und überirdischen Wirklichkeit noch einmal umfassend zusammenzubringen, das Unsichtbare und das Sichtbare, oben und unten, Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits. Es ist die Verschmelzung von menschlich-irdischer Fülle und paradiesischer Hoffnung, von weltlicher Sinnenfreude und Gottessehnsucht, die den barocken Kirchenraum mit Leben erfüllt, was um so deutlicher wird, wenn – wie heute mit der 1779 entstandenen Krönungsmesse – die haargenau zu diesem Raum passende Musik erklingt und sich mit der Architektur, den Gewändern und der Liturgie zum Gesamtkunstwerk verschmilzt

Niemand, der das auch in seiner eigenen Person und Musik dermaßen verkörpert hätte, wie Wolfgang Amadeus Mozart. Der geniale Komponist, dessen 250. Geburtstag die ganze Welt im zu Ende gehenden Jahr ausgiebig gefeiert hat, war ein durch und durch sinnenfreudiger und lebenslustiger Mensch, der für jeden Schabernack, Ulk und Klamauk zu haben und für seine derbe, zuweilen fast vulgär anmutende Sprache bekannt war. Er wirtschaftete verschwenderisch, lebte vielfach auf Pump, haute seine Zeitgenossen teils gnadenlos übers Ohr. Er hasste Dienst und Pflicht, liebte die Freiheit mehr als ihm, seiner Familie und Gesundheit gut tat, und suchte die Zerstreuung, wo sie sich nur bot. Dennoch – oder gerade deshalb – vermochte er Musik zu komponieren, die bis heute nicht nur die innersten Schichten, die verborgensten Tiefen und Sehnsüchte in uns Menschen ansprechen und zum Klingen bringen, sondern uns auch derart mitzureißen und zu beflügeln vermag, dass wir uns über uns selbst erheben. Keine menschliche Regung und Empfindung, kein Gefühl, das er nicht auf bewegendste Weise in Klang verwandelt und musikalisch betörend in Orchester-, Vokal- und Bühnenwerken umgesetzt hätte. Das gilt auch für menschliche Frömmigkeit, Andacht und Gottesverehrung. Mozart war in seinem kirchenmusikalischen Schaffen von dem Gedanken beseelt, der göttlichen Majestät musikalisch mit den besten und herausragendsten Mitteln und Möglichkeiten Ausdruck zu geben. Für ihn bestand die ganze Kunst darin, das Geheimnis Gottes in der ihm entsprechenden Gestaltung größten Prunks und höchster Kultur zu entfalten. Darum war die instrumental begleitete Kirchenmusik die in Mozarts Augen dafür einzig und allein angemessene Form. Wenn schon der Mensch dem Heiligsten, das er kennt, im Gottesdienst seine Kunst gibt, dann nur auf die bestmögliche Weise. Und so klingt auch in der Krönungsmesse der göttlichen Majestät die Freude des ihr eigenen höchsten künstlerischen Ausdrucks entgegen und vermittelt uns so das Unsichtbare, ja den Unsichtbaren.

Dieser Eindruck wird nicht dadurch gemindert, dass Mozart später, 1785 in seinem Figaro, das Agnus Dei verwendet, um es der Gräfin in ihrer Arie „Dove sono i bei momenti“ in den Mund zu legen. Mozart war immer weit davon entfernt, seine Musik zur Ehre Gottes vom Bereich des Menschlichen loszulösen. Sie ist der Ausdruckssprache der Musik seiner Zeit verbunden, die eben auch auf Bühnen, in Schlössern und auf Straßen oder Plätzen erklang. In seiner Kirchenmusik spiegelt sich ganz natürlich Mozarts Frömmigkeitsideal, das Lebensfreude und kirchlichen Sinn nicht als Gegensätze, sondern als Einheit im menschlichen Leben verstand. Sie macht Welt und Kirche, Lebensfreude und christlichen Ernst in ihrer Einheit erlebbar und hebt damit die Grenze zwischen den Ausdrucksmitteln weltlicher und kirchlicher Musik auf.

Das ist keineswegs despektierlich oder respektlos, es widerspricht auch nicht der Würde der Liturgie wie man im 19. Jh. meinte, als man alle Messen Mozarts aus dem Gottesdienst verbannte. Es ist ganz im Gegenteil Ausdruck der fundamentalen Wahrheit, die wir in diesen Tagen feiern: der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. In ihm sind die Grenzen zwischen profan und sakral, zwischen Jenseits und Diesseits zur vollendet göttlich-menschlichen Gemeinschaft verschmolzen. Seitdem Gott sich so radikal an das Menschsein gebunden hat, seitdem er in seiner Menschwerdung Schöpfer und Geschöpf, sich selbst und den Menschen vereint hat, gehört dieses sogenannte inkarnatorische Prinzip zur bestimmenden Grundwirklichkeit des christlichen Glaubens. Es bedeutet, dass die Frohe Botschaft von Gott, der unser Retter und Heiland ist, immer neu zur Welt kommen muss. Zu jeder Zeit, in jeder Epoche und Kultur verschafft sich derselbe Glaube eine jeweils entsprechende, angemessene Gestalt und Ausdrucksform. Deswegen ist es vollkommen legitim, dass das Kind in der Krippe in Afrika natürlich schwarz und in China mit asiatischen Augen zur Welt kommt. Die Begegnung mit Gott hat seit der Menschwerdung seines Sohnes immer weltbezogenen Charakter. Diese Welt mit ihrer Geschichtlichkeit und in ihrer Materialität trennt nicht von Gott, sondern verbindet uns mit ihm. Sie ist Mittel der Gnade für uns Menschen.

Mozart und das barocke Zeitalter haben das – ohne es explizit zu reflektieren – gewusst. Beide hatten ein nahezu instinktives Gespür dafür, dass, wenn der christliche Glaube für uns Menschen relevant und bedeutsam sein sollte, dass er dann eben keine weltfremde, schlimmer noch weltabgewandte Theorie sein durfte, dass Gottesdienst, Frömmigkeit und Gebet keine blutleeren, ausgedörrten Pflichtübungen sein dürfen, wie sie es dann teilweise im 19. Jh. wurden, abgehoben und schablonenhaft, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen bleiben, aber weit über sich selbst ausgestreckt ins Himmlische ragen müssen.

Davon können wir lernen. Es kann uns zuversichtliche Gelassenheit und vertrauensvolle Unbekümmertheit schenken. Nichts in dieser Welt, nichts Irdisches und Geschaffene wäre unwürdig genug, um Gott zu ehren, ihm zu dienen und zu loben. Wenn im Barock Gips, Glas, Farben, Stoffe, Stuck und Noten das können, dann können wir Menschen es erst recht. Wenn schon Totes, Lebloses, künstlich Geschaffenes zum Abbild des himmlischen Jerusalem, zur Wohnung Gottes unter den Menschen werden kann, dann können wir Lebendigen das erst recht. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zeigt uns zumindest, dass wir es sogar grundsätzlich sein sollen. Wenn schon der barocke schöne Schein uns Gott selbst erleben zu lassen vermag, dann können wir das schon lange, insofern wir nur den Glauben mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren, mit allen Sinnen und Freuden leben. Wenn wir nicht weltabgewandt, weltfremd oder -fern glauben, sondern mit all uns zur Verfügung stehenden zutiefst menschlichen Möglichkeiten, mit weltlichen Mitteln und irdischen Künsten Jesus Christus zur Welt bringen, ihn vor dieser Welt zu bezeugen versuchen, dann werden uns unsere Zeitgenossen auch glaubwürdig finden. Dann brauchen wir keine Sorge darüber zu haben, dass unser Ungenügen, unsere Oberflächlichkeit oder Armseligkeit sie daran hindern könnte, auch durch uns selbst Einsichten ins Unsichtbare zu erhaschen.

Jesus, Stephanus, Johannes, Mozart, unsere Liebfrauenkirche – sie geben alle dasselbe: Einsichten ins Unsichtbare. Ich bin mir sicher, liebe junge und erwachsene Christen, dass Sie nach diesem Gottesdienst ganz und gar einsichtig nach Hause gehen. Amen.



 


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