Predigt zur Wiedereröffnung der Liebfrauenkirche

Na, liebe junge und erwachsene Christen, haben Sie sie wiedererkannt – die Liebfrauenkirche, Ihre Kirche, unsere Pfarrkirche? Von außen gewiss. Innen aber hat sie in der Tat ein anderes Gesicht bekommen: sie ist heller, lichter weiter, geworden; sie strebt nach oben, der Sog in die Breite ist weg, die Decke lastet nicht mehr auf dem Raum, insgesamt wirkt alles eleganter, beschwingter, strukturierter. Es ist fast – alle Zuhörerinnen mögen mir das Bild verzeihen, obwohl ich ohnehin keine sehe, auf die es zutreffen könnte – es ist fast wie bei einer etwas zu stark geschminkten Dame: Unter all der Farbe und Tünche kaum noch zu erkennen, das wahre Wesen wunderbar verborgen. Auch hier war ja letztlich alles weggestrichen – von den architektonischen Grundlinien bis hin zum Hochaltar, also gerade das Typische, Kennzeichnende, Charakteristische. Die Sanierung unserer Kirche erfolgte ganz einfach mit ein bisschen Rücksicht und Respekt vor dem, was da ist: vor der vorhandenen Architektur, vor den prägenden Kunstwerken und Ausstattungsgegenständen, vor dem überkommenen Erbe und vor dem, was und wie hier gefeiert wird. Sie sollte – wie unser Architekt, Herr Rasche, es formuliert hat, „Historisches und Bewährtes bestärken und sinnvolle Erneuerungen mit Blick auf das Ganze ermöglichen.“ Und so ist jetzt auf den ersten Blick klar, dass man in eine Kirche eintritt – nicht in einen bloßen Versammlungsraum, ein Kommunikationszen-trum oder gar eine Bahnhofshalle. Kurz und gut: unsere Kirche hat jetzt schlicht wieder das ihrem kunstgeschichtlichen und sakralen Charakter gemäße Gesicht. Insofern ist der Wiedererkennungseffekt jetzt sogar noch größer als vorher.

Abgesehen davon weiß ich natürlich, dass Sie – liebe junge und erwachsene Christen – ein gutes Gedächtnis haben. So ist das bei uns Christen. Wir erinnern uns ganz gut. Das verdanken wir nicht zuletzt unseren Kirchen. Sie bewahren unsere Gesellschaft, die Kirche als ganze und uns selbst vor geistig-geistlicher Amnesie, vor Demenz und mentalem Verfall. So ist auch unsere Liebfrauenkirche eine plastische Gedächtnisstütze, die uns – in Abwandlung eines Gebetes aus dem Messbuch – daran erinnert, was wir allein vergessen und verlieren würden. Sie ist sozusagen monumentale Mnemotechnik, Stein gewordenes kollektives Gedächtnis, das uns, unsere Vorfahren und Nachkommen als Erinnerungsgemeinschaft Jesu Christi verbindet.

Was Erinnerung zu leisten vermag, ist an nicht wenigen alten Menschen erfahrbar, die allein aus ihren Erinnerungen zu leben vermögen. Für Kinder und Jugendliche oft genug unverständlich und manchmal richtig nervig, leben ihre Großeltern mehr aus dem Gedächtnis an Früher als im Hier und Heute. In der Tat vermag Erinnerung Leben zu schenken und zu erhalten. Das gilt nicht nur für betagte Menschen. Andrzej Stasiuk, 1960 geborener polnischer Autor, beschreibt, was er seiner Erinnerung in der Gefangenschaft einer Einzelelle verdankt, mit den Worten: „Ich hatte den Eindruck, man habe mir in Wirklichkeit die Freiheit gar nicht genommen, weil man mir die Erinnerung nicht genommen hatte.“ (Fado – Suhrkamp – Bd. 2527, 124)

Unser Projekt Liebfrauenkirche belegt, dass auch wir über die Freiheit der Erinnerung verfügen. Wir sind alles andere als geschichtsvergessen – wie das bei manchen Bürokraten unserer staatlichen oder sogar bischöflichen Behörden der Fall zu sein scheint, die Kirchen, Klöster und Kapellen selbst überregionaler Bedeutung ohne Bedenken für nur einen Euro verkaufen würden – so noch kürzlich in der Süddeutschen zu lesen. Wir vergessen nicht, was wir dieser Kirche für unsere ganz persönliche Geschichte zu verdanken haben – als wir hier erstmalig die Kommunion empfingen, gefirmt wurden, Vergebung erfuhren, heirateten, Primiz feierten oder von lieben Menschen Abschied nehmen mussten. Wir vergessen nicht, was wir dieser Kirche zu verdanken haben in traurigen oder schmerzlichen Stunden, wenn wir in der Knabenschola oder im Kirchenchor sangen, als Messdiener oder Messdienerin am Altar standen, mit der Familie gemeinsam hierher kamen, eine Kerze vor dem Marienbild entzündeten, vor dem ausgesetzten Allerheiligsten beteten und immer und immer wieder Eucharistie feierten. Wir vergessen nicht, was wir ihr für unsere ganz persönliche Gottesbeziehung verdanken, für unsere Beziehungen untereinander, für unsere Erkenntnis über uns selbst, unser Leben und das Sein. Wir vergessen nicht, wie oft wir hier Sinn verspürten, die Fülle des Lebens erahnten und in der Freude an Gott, an unseren Mitmenschen und auch über selbst wieder fortgingen.

Über das ganz Private und Persönliche hinaus erinnern wir uns, was wir insgesamt, als Gesellschaft, als Stadt, als Pfarrei dieser Kirche zu verdanken haben, welche Bedeutung sie für Bocholt, seine Geschichte und das Umland bis in den niederländischen Raum hinein hat. Von dieser Kirche aus haben die Minoriten 1627 begonnen, jene Botschaft vom menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn neu zu verkünden, die in ihrer Ausstrahlung, Kraft und Bedeutung von den damaligen katholischen Predigern scheint’s nicht mehr vermittelt werden konnte. Von hier aus haben sie zudem seit 1635 mit ihren Gottesdienststationen der Grenze entlang bis hin zur Gründung ihrer zweiten Niederlassung in Zwillbrock über unsere eigene hinaus auch noch die christliche Identität der niederländischen Katholiken im Grenzgebiet gewährleistet. Die Kapellen in Schüttenstein, Mussum, Suderwick, Spork, Hemden, später auch Werth wurden von hier aus betreut. Das alles oft genug unter Einsatz von Leib und Leben, war es den Katholiken jenseits der Grenze doch verboten, ihren Glauben öffentlich zu leben.

Darum bleibt mit unserer Liebfrauenkirche die Geschichte nicht einfach von der Bewahrung, Sicherung und Identität, sondern vielmehr noch von der Vitalität, der Stärke und Ausstrahlung unseres Glaubens verknüpft. Mit dieser Kirche verbindet sich die Geschichte vom Aufbruch, vom Initiativwerden, von der Dynamik unseres Glaubens. Das gilt nicht erst für die Wagnisse, die die Minoriten im Kontext ihrer Weise der Neugestaltung des christlichen Lebens auf sich nahmen. Das gilt auch nicht nur für die ersten ökumenischen Schritte zwischen den Gemeinden der Christus- und der Liebfrauenkirche, die Pfarrer Quade und Propst Dülmer in einer für die 40er Jahre nahezu revolutionären Weise zu gehen wagten. Es gilt auch nicht erst für die Initiative des Propstes, die Liebfrauenkirche neben St. Servatii in Münster und der Sakramentskapelle in Kevelaer als dritte Anbetungskirche im Bistum zu etablieren. Das gilt im Grunde von Anfang an.

Schon das Gründungsdatum dieser Kirche ist ein Beleg dafür. Was Neues musste her 1310, endlich. Die Stadt und ihre Kirche waren zu klein geworden, um die Menschen zu fassen. Sie platzten aus allen Nähten. Als die wohlhabende Familie Thileman von Essincholte eine großzügige Schenkung an Grund- und Hausbesitz machte, konnte man den Neubau einer zweiten Kirche für die Stadt angehen. „Nye Kerke“ sollte die frühgotische, einschiffige Liebfrauenkirche, die hier kurz danach entstand, nicht umsonst für die nächsten drei Jahrhunderte im Volksmund heißen.

Auch in ihrer Baugeschichte und ihren Ausstattungsgegenständen wird die mit unserer Kirche bleibend verbundene Geschichte vom Aufbruch und der Dynamik unseres Glaubens greifbar. Als die erste Liebfrauenkirche im Lauf der Zeit baufällig wurde und zudem ihr Chorraum die 30 Patres und Brüder nicht mehr fassen konnte, planten die Minoriten eine neue Kirche. Mit Ausdauer und Zähigkeit gelang es ihnen, der Stadt und dem Pfarrer von St. Georg einen Neubau abzuringen. Als er 1792 stand, wurde der frühgotische Erstbau wie selbstverständlich abgerissen. Im späten 19. Jh. fand Pfarrer Rump nichts dabei, den spätbarocken Raum samt nunmehr hochbarockem Altar neugotisch zu dekorieren. Und so wenig sich die Minoriten im 18. Jh. scheuten, die frühmittelalterliche Kirche einem zeitgenössischen Neubau weichen zu lassen, so wenig haben sich unsere Großmütter und -väter gescheut, die spätbarocke Kirche einfach nach Norden hin, in diese Richtung, aufzubrechen, um sie mit einem neubarocken Anbau zu erweitern. So wie in den frühen 20ern die Kirche einschließlich der Paoterskerke von vorne bis hinten mit goldbrauner Ornamentik überzogen wurde, so haben die Gläubigen 1937/38 diese Bemalung samt den Szenen aus dem Leben der Gottesmutter und des hl. Liudger ohne große Bedenken übermalt. Es schien ihnen des Guten zu viel. Nicht anders handelten 1968 unsere Väter und Mütter, als sie – des Alten überdrüssig – auf der Welle der gesellschaftlichen Umwälzungen mitsegelten und – im wahrsten Sinne des Wortes – befeuert von einer ideologisch gefärbten Konzilseuphorie kurzerhand den früheren Altarraum buchstäblich dem Erdboden gleichmachten.

Natürlich hat das alles nicht immer jedem in gleicher Weise gefallen. Schon 1310 hat es nicht allen gepasst, dass überhaupt ’ne neue Kirche gebaut wurde. Die Abpfarrung ist ja nicht umsonst über Jahrhunderte hin verhindert worden. Auch im 18. Jh. war es keineswegs den gesamten Bewohnern unserer Stadt recht, als die Minoriten ihre Planungen für ihre Klosterkirche umsetzen konnten. Mit den verschiedenen Bemalungen wird es sich genauso verhalten haben. Die 68er Umgestaltung hat sogar viele Gläubige richtig brüskiert. Und mit dieser Sanierung und Erneuerung ist es auch nicht anders: nicht alles wird jedem in gleicher Weise gefallen. Dennoch zeugt selbst das Auf und Ab noch, das – wie Anton Schmeddinghoff es ausdrückte – das Wechselreiche und Schicksalsschwere der Baugeschichte unserer Liebfrauenkirche immer noch von der Vitalität, Dynamik und Energie unseres Glaubens, die zahllose Menschen im Laufe der Jahrhunderte dazu brachte, sich stets von neuem für unsere Kirche einzusetzen, sie zu verschönern, zu renovieren, umzugestalten oder – wie nach dem Krieg – wieder aufzubauen.

Dasselbe Zeugnis ist in den Kunstwerken greifbar, die unsere Liebfrauenkirche beherbergt. Fast jede Epoche hat ihre Spuren hinterlassen. Da ist der spätmittelalterliche Corpus des Gekreuzigten, da sind die Tafelbilder aus dem 15. und 16. Jh. – Kunstwerke, die in Kürze wieder ihren Platz in der Kirche finden –, der Hochaltar aus dem 17. und das Hochaltarbild von Koppers aus dem 18. Jh.. Da sind die großen Messingleuchter aus dem 19. und die Fatima-Madonna aus dem frühen 20. Jh. Der Glaube unserer Vorfahren, der Glaube jeder Zeit hat sich in all diesen Ausstattungsgegenständen vom Spätmittelalter über den Barock bis zur Neuzeit Ausdruck verschafft. Daneben finden sich beachtenswerte Kunstwerke der Moderne. Der bedeutsame Fensterzyklus von Joachim Klos aus den 60er und 70er Jahren, der Weg des Lebens von Helga Kock am Brinck aus den 90ern, die von Prälat Clemens Brüggemann initiierte Auferstehungsstele vom Beginn des 3. Jahrtausends. Sie sind Ausdruck zeitgenössischen Glaubens. Egal aus welcher Epoche sie stammen: nicht alle Kunstwerke und Ausstattungsgegenstände werden jedem immer in gleicher Weise gefallen. Auch das war früher schon genauso. Dennoch ist jedes für sich und sind sie alle zusammen beredtes Zeugnis von der Vitalität, der Stärke und Ausstrahlung unseres Glaubens. Dessen Geschichte geht weiter. Sie endet nicht einfach im 17. oder 18. Jh. Darüber können wir doch eigentlich nur froh und dankbar sein. Insbedondere die jüngeren Objekte zeigen uns, dass unsere Liebfrauenkirche kein Museum ist – und auch keins werden soll –, sondern Raum für die Weitergabe, für die lebendige Traditio des Glaubens ist – seit fast 700 Jahren schon und – wie ich hoffe – mindestens für die nächsten 700 Jahre auch noch. Das ist ja gerade das Charakteristische unserer Kirche: die – insgesamt gesehen – gelungene Verbindung von Alt und Neu, von Vergangenheit und Gegenwart, von Tradition und Moderne.

Genau darum haben wir sie jetzt auch saniert. Unser Projekt reiht sich nahtlos ein in die Geschichte des Aufbruchs, des Initiativwerdens und der Dynamik unseres Glaubens, die mit dieser Kirche verknüpft bleibt. Wir haben das hier gewagt, obwohl uns Herr Diözesanbaudirektor Wendel empfahl, das Projekt Liebfrauenkirche „nicht weiter zu verfolgen“ (Vgl. Schreiben des BGV AZ 642/22 vom 23.06.2006). Aber lassen wir uns ja nicht gleich durch jedes Schreiben aus dem Generalvikariat die Freiheit der Erinnerung nehmen. Wir nicht, nein! Gewiss kann man nicht von jedem Diözesanbaudirektor solche Sensibilität erwarten wie sie der einstige Dombaumeister Sunder-Plaßmann bei der einfühlsamen neubarocken Erweiterung des barocken Altbaus hier an den Tag legte. Doch selbst mir war anfangs bei der Höhe der erforderlichen Spendensumme etwas mulmig zumute. Nach alter Währung hätte ich die Summe gar nicht zu nennen gewagt. Doch die Dynamik, die sich seit August 2006 auf den Spendenaufruf zugunsten unseres Projekts entwickelte und nahezu Woche für Woche am Spendenbarometer ablesbar war, ist für den ein oder anderen schon eine Herausforderung gewesen, sich noch mehr einzubringen oder noch mehr zu geben, als ursprünglich geplant. In nur 2 ½ Jahren sind so bisher 490.021 € gespendet worden. Ich bedanke mich nicht nur Namen des Kirchenvorstandes und des Pfarrgemeinderates, ich bedanke mich auch persönlich von ganzem Herzen bei allen, die sich finanziell, materiell, ideell, tatkräftig – vom Steineklopfen über den Weihnachtsbudenverkauf bis hin zum Putzen – oder in vielfacher Form für unser Projekt Liebfrauenkirche eingesetzt und zu dessen Erfolg beigetragen haben. Vielen, vielen Dank!

Dennoch, rechnen tut sich das nicht. Das bleibt so bei unserer Liebfrauenkirche: das ist ein Raum, der jeder Kosten-Nutzen Rechnung spottet, mit dem nichts zu verdienen ist. Diese Kirche ist einfach nur Raum für Gott. In einer Stadt, in der für alles Mögliche Platz ist, für Fußgängerzonen, Fitnesscenter und Firmen aller Art, für Kinos, Kneipen und Kindergärten, für Parkhäuser, Praxen und Pizzerien, für Schwimmbäder, Shoppingmeilen und Schulen, hält dieser Raum die Stelle frei für Gott. Platzhalter Gottes ist sie, die Liebfrauenkirche. Sonst eigentlich nichts. Freier Raum. Freiraum Gottes, der uns nicht zuletzt vermitteln möchte, dass der Mensch, dass wir in seiner, in der Freiheit der Kinder Gottes leben dürfen. Sein Freiraum, der uns den Freiraum eröffnet, sich ihm gegenüber eben nicht durch Effektivität und Effizienz, durch Produktivität und Leistungskurven, durch Geld, Geltung oder Ansehen beweisen müssen. Gerade das ist es doch, was wir Menschen in den Kathedralen der Moderne suchen und doch so teuer bezahlen müssen, in Freizeitparks, Wellnesstempeln, Fußballstadien und Einkaufszentren: Freiraum. Hier ist er, einfach so. Umsonst. Wir dürfen einfach so hier sein wie Gott hier ist, einfach so da sein wie er da ist. Wo Platz für Gott ist, ist auch Platz für den Menschen. In einer alles und jeden verzweckenden Gesellschaft wird dieser, dem Zwecklosen schlechthin reservierte Raum gerade darum zum sinnvollen Raum. Nichts kann sinnvoller sein als Raum für Gott.

Auf diese Weise erinnert uns unsere Kirche über das Geschichtliche und bereits Erfahrene, über das ihr Verdankte und Erlebte hinaus auch an das, was noch aus- oder – besser – ansteht, an das, was sein wird, an die Zukunft. Indem wir Gott Raum geben, geben wir immer auch unserer Utopie Raum. Jener Utopie, die sich nicht erst mit den Anfängen des Christentums im Bild vom Himmlischen Jerusalem ausdrückt. Es meint nichts anderes, als das Gott für uns Menschen zum unmittelbaren Erlebnis wird. Er wird uns rundum beschützen – dafür stehen die Mauern dieser Stadt –, er wird unser ganzer Reichtum sein – darum ist sie nur mit kostbarsten Edelsteinen vergleichbar –, und er wird unsere totale Freiheit werden – weshalb sie von universaler Weite ist, die allen offen steht. Paulus stellt daher dem unfreien irdischen Jerusalem das freie, himmlische Jerusalem gegenüber (Gal 4, 25f.). Es ist der Ort der Freiheit. Eine vollkommenere, glücklichere, bessere Welt ist nicht denkbar. Als Freiraum Gottes erinnert auch unsere Kirche an diesen Ort der Freiheit und macht insofern klar, warum wir Christen schon jetzt Kinder des himmlischen Jerusalem sind. Wie das irdische Jerusalem – spätestens mit seinem Einzug in die Stadt – für Jesus der Ort ist, an dem sich sein Leben und Werk vollenden – das, was wir in den kommenden Tagen feiern, so ist das himmlische Jerusalem der Ort, an dem sich unser Leben und Werk vollenden. Darum ist es die Stadt, die unserer Zukunftshoffnung, unserer Utopie Bild und Farben schenkt. Unsere Fenster hier werden in ihrer Schönheit und Transparenz zum Abbild des Himmels. Unsere Portale zum Bild der Porta Coeli, der Himmelspforte. Der Bau ist Symbol für die Stadt. Alle, die hier, in diesen Freiraum Gottes eintreten, sollen dieselbe Zuversicht und Gewissheit gewinnen, die auch den Seher des himmlischen Jerusalem beflügelte als er niederschrieb: Gott „wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mach alles neu“ (Offb 21,3).

Diese Utopie ist nicht einfach Science fiction, Hirngespinst oder fromme Phantasie. Diese Utopie ist immer schon Realität geworden, wenn wir Christen – wie hier mit unserer Liebfrauenkirche – versucht haben, Gott in unserer Welt Raum zu verschaffen. „Ich überlasse es jedem“, schreibt Heinrich Böll, „sich den Alptraum einer Welt vorzustellen, in der Gottlosigkeit konsequent praktiziert würde: den Menschen in die Hände des Menschen fallen zu lassen. Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in der christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache; und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe, für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen.“ („Eine Welt ohne Christus“ – List – TB Band 105). Das hier, unsere Kirche ist so ein Raum

Das wünsche ich unserer Stadt Bocholt, unserer Pfarrei, jedem, der dieses Gebäude betritt, es besichtigt, hier betet oder Gottesdienst feiert, ich wünsche es uns ganz persönlich – liebe junge und erwachsene Christen –, dass unsere Liebfrauenkirche bleibt, was sie war und ist: Freiraum Gottes und des Menschen. Freiraum, der allen zugänglich ist. Raum der Erinnerung und gerade darum Raum unserer Freiheit und unserer christlichen Utopie. Amen.

Pfarrer Dr. Klaus Winterkamp

Predigt als PDF-Datei

Veröffentlicht: 04.04.2009



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