Predigtreihe in den Sommerferien

In einer vielfältig ungesicherten Zeit steigt das Bedürfnis nach Sicherheit und Verlässlichkeit. In unserer durch mancherlei Zukunftsängste geprägten Gesellschaft hat darum die Frage nach den Werten ein neues und breites Interesse gefunden. Was ist ein Wert? Woran soll man sich selbst, woran soll sich eine Gruppe oder die Gesellschaft als ganze ausrichten? Viele lassen sich ihre Werte nicht einfach so vorschreiben. Weder der Staat, noch Vereine oder Verbände, schon gar nicht die Kirchen haben die alleinige Deutungshoheit über die Werte. Daher lohnt sich in einer immer komplexeren, medialisierten und computerisierten Welt das Nachdenken über Werte. In den diesjährigen Sommerferien werden wir dieser Frage nachgehen. Unter der Überschrift „Renaissance der Werte?“ kommen in den Sommerferien sieben Antworten auf unterschiedliche Wertefragen zu Gehör. Persönliche Antworten, denen man nicht immer voll zustimmen oder gleich widersprechen wird, aber Antworten, die vermitteln, das jeder einzelne mit der Frage nach den Werten, nach dem, was gilt oder verbindlich ist, oftmals vor einem Dilemma steht, jedoch nicht alleine um solche Fragen ringen muss.

Die Texte enstammen alle dem Buch 77 Wertsachen - Was gilt heute?. Herausgegeben von Peter Frey, Herder-Verlag, Freiburg, Basel, Wien.

Diese Seite wird jeden Sonntag in den Ferien um Punkt 19 Uhr aktualisiert!

7. Feriensonntag, 2./3. August 2007

Wolfgang Thierse ist Bundestagsvizepräsident und Mitglied des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. Von 1988 bis 2005 war er Bundestagspräsident.

Erhaltenswert? – Das religiös-kulturelle Erbe

„Als Pfarrgemeinderatsmitglied muss ich jetzt darüber entscheiden, ob wir die dringend notwendige Renovierung unserer wunderbaren Barockkirche angehen oder unser immer knapperes Geld in die Sozialarbeit stecken. Wir müssen entscheiden: zwischen der Kirche, in die immer weniger Besucher kommen, und der Notwendigkeit, den Bedürftigen in unserer Pfarrgemeinde unter die Arme zu greifen. Was ist richtig?“

Eine fatale Alternative! Ein typischer Verteilungskonflikt ums immer zu knappe Geld! Wie oft erleben wir das, in der Pfarrgemeinde, in der städtischen Gemeinde, auf allen Ebenen der Politik. Eine schwierige Entscheidung. Das Soziale wird gegen die Kultur ausgespielt. Das eine ist Pflichtaufgabe, das andere ist Kür.

Der moralische Druck ist groß: Die Milderung menschlichen Leids und Elends ist doch so viel wichtiger, als Geld hinauszuwerfen für so etwas Überflüssiges, nicht Lebensnotwendiges wie Kunst! Eine sympathische, verständliche Grundeinstellung! Allerdings: Mit dieser Grundüberzeugung hätten nie prächtige Kirchen und Paläste gebaut, nie große Kunstwerke angeschafft werden können. Alles hinausgeworfenes, unanständig verwendetes Geld. Denn dieses Geld ist immer Armen vorenthalten, sozialen Zwecken entzogen worden. Arme gab es immer, denen man unter die Arme hätte greifen müssen. Trotzdem sind wunderbare Kirchen gebaut, teure Kunstwerke bezahlt, große Feste gefeiert, ist also Kultur finanziert worden - zur Freude der teilnehmenden Zeitgenossen, zur Freude der nachfolgenden Generationen.

Und die Kirche selbst: Gäbe es sie noch als „das wandernde Volk Gottes" (wie das 2. Vatikanische Konzil sie beschreibt), wenn die ses Volk sich nicht Kirchen gebaut, nicht Räume der stillen und der festlichen Vergegenwärtigung Gottes, der gottesdienstlichen Versammlung baulich inszeniert hätte? Alle großen Religionen haben dies so gehalten. Nicht selten gewiss zu prunkvoll, zu luxuriös, unter allzu vielen Opfern! Aber doch notwendig als ein Fundament, eine Weise der Tradierung des Glaubens, eben in ästhetischer, in künstlerischer Gestaltung und Sichtbarkeit. Und dieses religiös-kulturelle Erbe will gepflegt sein, um der Zukunft willen.

Also eine falsche Alternative? Im Grundsätzlichen ja. Aber auch im Konkreten? Nur dann nicht, wenn es gelingt, „unser immer knapperes Geld" zu vermehren - durch das Einsammeln und Einwerben von Spenden, durch verstärkte Solidarität mit den Bedürftigen der Gemeinde und mit den Obdachlosen. Nur wenn das nicht gelingt, wäre es die falsche Alternative, und wir müssten, wie immer wir uns entscheiden, ein schlechtes Gewissen haben, müssten im Zweifel die „Option für die Armen" wählen!

Dass man die falsche Alternative vermeiden kann, beweist meine eigene Heimatgemeinde Herz-Jesu in Berlin-Prenzlauer Berg. Sie tut beides: Mit viel Engagement betreibt sie im Winterhalbjahr ein Nachtasyl für Obdachlose, organisiert nachbarschaftliche Hilfen - und renoviert die Kirche (eine einigermaßen schöne neo-romanische Kirche aus dem 19. Jahrhundert) mit Geldmitteln aus dem laufenden Etat, aus sonntäglichen Gottesdienstsammlungen und aus den Spenden, die ein eigens dafür gegründeter Verein sammelt.

Es geht beides, es muss beides gehen!

Im Neuen Testament wird von gleich drei Evangelisten, nämlich Matthäus, Markus und Johannes, die gleiche Begebenheit erzählt, die Geschichte von der Salbung in Betanien: Eine Frau salbt und überschüttet Jesus mit wohlriechendem, kostbarem Öl. „Die Jünger wurden unwillig, als sie das sahen und sagten: Wozu diese Verschwendung? Man hätte das Öl teuer verkaufen und das Geld den Armen geben können."

Und Jesu Antwort ist beinahe schroff: „Warum lasst ihr die Frau nicht in Ruhe? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber nicht..." Und dann sagt Jesus durchaus pathetisch: „Amen, ich sage euch: Überall auf der Welt, wo dieses Evangelium verkündet wird, wird man sich an sie erinnern und erzählen, was sie getan hat" (Joh. 26,6-13).

 

6. Feriensonntag, 28./29. Juli 2007

Wolfram Henn ist Professor für Humangenetik und Ethik in der Medizin an der Universität des Saarlandes und Vorsitzender der Kommission für Grundpositionen und ethische Fragen der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik.

Wertzuwachs? – Reproduktionsmedizin und Kinderwunsch

„Es gibt heute viele medizinische Möglichkeiten, Paaren zu helfen, die keine eigenen Kinder bekommen können. Gibt es für diese Therapien eine ethische Grenze? Wieweit kann / soll die Medizin gehen, um zu helfen?“

Kaum irgendwo sonst im Leben geht es so schmerzhaft ungerecht zu wie bei der Fortpflanzung: Während die einen sich mit ungewollten Schwangerschaften auseinandersetzen müssen, sehnen sich die anderen vergebens nach ihrem Wunschkind.

Das ist keineswegs selten; etwa jedes siebte Paar ist ungewollt kinderlos. Das Problem und ein alter Weg zu seiner Lösung sind schon in der Bibel beschrieben: Abrahams unfruchtbare Frau Sara gestattete ihrem Mann, mit der Sklavin Hagar ein Kind zu zeugen - und geriet in ein Eifersuchtsdrama.

Seit gut zwanzig Jahren aber hat die Reproduktionsmedizin neue Möglichkeiten eröffnet, Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch zu gemeinsamem leiblichem Nachwuchs zu verhelfen. Der Preis dafür ist hoch, nicht nur in finanziellen Kategorien: Belastende Hormonbehandlungen, monate- oder jahrelanges Diktat von Kalender und Laborwerten über das Sexualleben und das Wissen, dass bei gut der Hälfte der Paare letztlich doch alle Mühe vergebens bleibt. Woran es nicht mangelt, sind wohlmeinende Ratschläge, vor allem der eine: „Es gibt so viele elternlose Kinder, adoptiert euch doch eins!" Klingt zunächst vernünftig; schaut man aber genauer hin, ist das kein hilfreicher Rat von außen. Diejenigen Paare, die ein adoptiertes Kind ohne Vorbehalte als das ihre annehmen können, kommen schon selber auf diese Idee - ob sie in ihrem meist schon fortgeschrittenen Alter eines von den Behörden zugesprochen bekommen, steht auf einem anderen Blatt. Und für die anderen gilt, dass ein bloß als „Notnagel" adoptiertes Kind in der Familie kaum den Status hätte, der ihm gebührt - besonders dann, wenn ihm, wie bei Abraham, doch noch ein leibliches folgte.

Vor allem aber habe ich in meinem Berufsleben als genetischer Berater gelernt, dass es kaum einen Wunsch beim Menschen gibt, dem - so er vorhanden ist - so bedingungslos alles andere untergeordnet wird wie dem nach einem leiblich eigenen Kind. Evolutionsbiologisch ist das banal; der Fortpflanzungstrieb ist tief in unserem Verhaltensrepertoire verankert. Dennoch ist es immer wieder eindrucksvoll und mitunter bedrückend zu erleben, wie manche Paare auch auf die leiseste Hoffnung oder das unseriöseste Heilsversprechen hin schier Haus und Hof zu versetzen bereit sind.

Müssen sie sich für diesen Wunsch moralisch rechtfertigen? Zweifellos nicht. Hat unerfüllter Kinderwunsch einen solchen psychischen Krankheitswert, dass Betroffene Anspruch auf von der Allgemeinheit - sprich Krankenkasse - finanzierte Behandlung haben? Aus meiner Sicht ebenso zweifellos ja, jedenfalls dann, wenn medizinisch eine reelle Erfolgschance besteht. (Auf den hier naheliegenden gedanklichen Abstecher in die deutsche Demographie sei verzichtet - auch ein kinderloses Paar in Bangladesch hat ein unbestreitbares moralisches Recht, sich eigene Kinder zu wünschen.).

Dennoch müssen und dürfen Ärzte nicht alles technisch Mögliche tun, um Eltern zu biologisch eigenen Kindern zu verhelfen. Schon der gute alte Kant hat, in anderem Zusammenhang, die moralische Grenze des Kinderwunsches vorgezeichnet. Sie verläuft dort, wo das Kind nicht um seiner selbst willen gewünscht wird, sondern als Mittel zur elterlichen Selbstverwirklichung. Dazu eine Originalszene aus einem - Gott sei Dank nicht ganz alltäglichen, aber durchaus bezeichnenden - Beratungsgespräch: „Können wir auch ganz sicher gehen, dass das Kind am Ende wirklich gesund ist? Sie müssen verstehen, Doktor, am liebsten wäre uns ein Sohn, der später meine Firma übernehmen kann. Da gibt es doch Fruchtwassertests und solche Sachen ..."„Meinen Sie so eine Art medizinische Garantie, dass mit dem Kind alles nach Plan läuft?" „Hmm - ja, irgendwie, wenn so etwas möglich wäre ..." „Tut mir leid, Umtauschrecht und Vollkasko sind bei Kindern nicht vorgesehen. Wenn Sie das brauchen, sollten Sie sich vielleicht doch besser ein Auto anschaffen."

 

5. Feriensonntag, 21./22. Juli 2007

Bettina Schausten leitet die ZDF-Hauptredaktion Innen-, Gesellschafts- und Bildungspolitik, moderiert die ZDF-Wahlsendungen und das Politbarometer.

Lebenswert? – Die Frage nach der Sterbehilfe

„Meine Mutter leidet seit Jahren, ihr Zustand wird immer schlimmer. Ich bin Ärztin, und sie bittet mich immer flehentlicher, sie zu erlösen. Auch wenn es rechtlich verboten ist, habe ich nicht die moralische Pflicht, ihr beizustehen, ihr zu einem würdigen, selbstbestimmten Tod zu verhelfen?“

Als sie ein kleines Mädchen war, hatten Mutter und Tochter ein Spiel. Es hieß: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn die Sterne vom Himmel fielen? Was wäre, wenn der Herbststurm das Haus begraben und alles, Autos, Menschen und den Hund, wegfegen würde? Was wäre, wenn Oma aus dem Himmel zurückkehren und sich auf den Rand des Bettes setzen würde? Was wäre, wenn - das Spiel beschwor alle Schrecken der Kinderseele und bannte sie zugleich. Auf alles hatte die Mutter eine ebenso beruhigende wie versöhnliche Antwort, und wenn es die Fantasie der Tochter allzu toll trieb, sagte sie schon mal: Jetzt reichts, nichts passiert dir. Ich bin da.

Als wirklich etwas passierte - 30 Jahre später - war es die Mutter, die die Frage wieder stellte, die Zuflucht suchte bei der Tochter, der Ärztin, auf die sie so stolz war und die sie nun fragte: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn ich dich bitten würde, ein Ende zu setzen, mein Ende zu setzen? Vorausgegangen waren Jahre mit Hoffen und Bangen, mit wenigen Aufs und vielen Abs, seit Monaten ging es nur noch bergab. Die nächste Operation stand bevor, riskant, das wussten beide, die Gefahr schwerer Schädigungen war groß, die Aussicht, dass die Mutter zwar überleben, aber nie mehr würde leben können, real. Was wäre, wenn das einträfe?

Die Vorstellung, an Maschinen gekettet zu vegetieren, ausgeliefert der Apparatemedizin oder ausgeliefert den Schmerzen, das wollte die Mutter nicht. Wollte auch die Tochter nicht. Aber wie könnte sie ein Leben beenden, das ihr selbst das Leben geschenkt hatte? Mit dieser Schuld würde sie nicht leben können, das wusste sie. Und sagte es der Mutter: Verlang das nicht von mir! - Du bist die Ärztin, sagte sie, du wirst wissen, was zu tun ist, ich vertraue dir.

Es gab Momente, in denen hasste die Tochter die Mutter dafür. So funktioniert das nicht, diese Verantwortung kannst du mir nicht aufbürden! Du kannst nicht verlangen, dass ich weiterlebe in der Gewissheit, dein Leben ausgelöscht zu haben! Wie soll mein Gewissen das tragen? Die Zehn Gebote hatte die Mutter sie gelehrt. „Du sollst nicht töten" war ihnen immer als das wichtigste erschienen, auch wenn es Momente gab, in denen die Mutter darauf hinwies, dass „Du sollst Vater und Mutter ehren" im Dekalog noch davor stünde. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass eines das andere ausschließen könnte.

Manchmal gelang es der Tochter auszublenden, dass es in diesem Fall um die eigene Mutter ging. Vor den überbordenden Emotionen von Angst, Trauer und Zorn suchte sie Zuflucht in der Rolle der Ärztin, die doch in der Lage war, nüchtern abzuwägen. Hippokratischer Eid, Grundsätze des eigenen Standes, das Gesetz - aus allem ergab sich das Verbot aktiver Sterbehilfe. Leben erhalten, Gesundheit schützen, Leiden lindern - dieser Dreiklang war ihr lange wie die Überschrift, die Richtschnur einer Profession vorgekommen, wie es keine schönere geben konnte. Leben aktiv zu beenden oder nur das Mittel in die Hand zu geben, damit ein Patient sein Leben selbst beendete, das verbot ihre ärztliche Überzeugung.

Berichte, wonach in den Niederlanden, seit dort aktive Sterbehilfe in engen Grenzen legalisiert war, immer wieder alte Patienten ein Papier bei sich trügen, das den ausdrücklichen Willen bekundete, nicht aktiv aus dem Leben befördert zu werden, erschütterten und bestärkten sie in ihrer Überzeugung. Waren es nicht oft die Angehörigen, die im Angesicht des Todes zu der Überzeugung kamen, das hätte die Mutter, der Vater, der Bruder bestimmt nicht gewollt. Und selbst wenn eine Verfügung des Patienten vorlag, war der Wille vorher überhaupt genau festzulegen? Sie hatte Patienten erlebt, die die Diagnose einer schweren Krankheit und die Vorstellung dessen, was auf sie zukommen könnte, zu einer klaren Willensbekundung veranlasst hatte: Bitte nicht mit mir. Die dennoch ihren Willen änderten und, obwohl alle Schreckensvisionen sich erfüllt hatten, an dem letzten Rest ihres Lebens hingen.

Und doch: Der ausdrückliche Wille eines Menschen, über sich selbst zu bestimmen, die eigene Würde auch im Sterben gesichert zu sehen, konnte nicht einfach übergangen werden. Nichts hatte es mit Würde zu tun, auch das hatte sie erlebt, einen Sterbenskranken ohne jegliche medizinische Aussicht auf Besserung seines Zustands zu reanimieren, ihn dem Tod zu entreißen, wenn die Angehörigen nicht bereit waren, ihn die Schwelle zum Tod überschreiten zu lassen. Der Graubereich war groß, in dem sich Ärzte bewegten, wenn sie sich für einen Ton des Dreiklangs entscheiden mussten: Wenn es um Gesundheit längst nicht mehr ging, galt es abzuwägen, was Vorrang haben sollte: Leiden zu lindern oder Leben zu erhalten. Sie wuss-te: Dies könnte die Entscheidung sein, die auf sie zukäme, wenn es so wäre.

Was wäre, wenn? Liebe Mutter, Erlösung kann ich dir nicht geben. Nicht als Tochter, nicht als Ärztin. Als Ärztin ist mein Bezugspunkt das Leben, als Tochter hänge ich nicht nur am Leben, sondern an deinem Leben. Ich könnte es niemals aktiv nehmen. Aber ich habe die Verpflichtung, deinen Willen zu akzeptieren. Als Ärztin wie als Tochter, die ihre Mutter liebt. Ich bin da. Ich verspreche, alles zu tun, damit du nicht leidest. Ich verspreche, nicht alles zu tun, damit du weiterlebst, wenn das mit zu viel Leid für dich verbunden ist. Und ich bete, dass ich vor diese Entscheidung nicht gestellt werde.

 

4. Feriensonntag, 14./15. Juli 2007

Gernot Mittler war von 1993 bis 2006 Finanzminister von Rheinland-Pfalz.

Wertschätzung? – Von der Steuer

„Ich bin dabei, meine Steuerklärung zu machen, und ärgere mich über die vielen Abzüge. Es gibt 1000 legale Steuertricks. Ist, wer (steuer)-ehrlich ist, nicht automatisch der Dumme?“

Was hat meine Steuererklärung mit der Wertediskussion zu tun? Schließlich geht es doch „nur" darum, den Gesamtbetrag meiner Einkünfte zu ermitteln, die Beträge in einen Fragebogen, „Steuererklärung" genannt, sorgfältig und korrekt einzutragen, einschließlich möglicher Sonderausgaben und „außergewöhnlicher Belastungen", und das alles fristgerecht dem Finanzamt einzureichen. Dieses setzt sodann die Steuern fest, und damit hat es sich.

Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn das Steuerrecht ist kompliziert. Und so hat sich eine üppig gewachsene Branche etabliert, Steuerberater, Wirtschaftsberater, Anlageberater, die für ihre Mandanten und Kunden steuerliche Ergebnisse „optimieren", d.h. im Klartext die Steuerzahlung minimieren. Für den, der auf professionelle Beratung verzichtet, hält nahezu jede Buchhandlung eine umfangreiche Literatur mit „Steuertricks" bereit, die auch dem Laien verrät, wie er Steuern spart. So kann manch einer stolz am Stammtisch oder bei Kollegen berichten, dass er es dem Finanzamt einmal so richtig gezeigt hat. Des Respekts seiner Zuhörer darf er sich sicher sein!

Problematisch wird das Spiel, wenn die Grenze zwischen (legaler) Steuergestaltung und (strafbarer) Steuerverkürzung überschritten wird. Zwar wird auch Letzteres durchweg den Applaus der Bewunderer nicht schmälern, denn Steuerhinterziehung gilt bei uns eher als Kavaliersdelikt denn als geächtete Straftat. Aber es ist genau dieser Moment, an dem die Wertefrage einsetzt - für den Einzelnen, der seine Unterschrift unter eine mehr oder weniger „geschönte" Steuererklärung setzt, aber auch für die Gesellschaft. Einerseits: Wer möchte schon gerne der Dumme sein? Andererseits: Was ist die Folge für das allgemeine Rechtsempfinden, wenn der „kreative" Steuergestalter mehr gilt als der „brave" Steuerzahler?

Im Kapitel 13 seines berühmten Briefes an die Römer beschreibt der Apostel Paulus das Verhältnis des Christen zur staatlichen Ordnung so: Notwendig sei es, dem Staat „Gehorsam zu leisten, nicht nur aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen. Das ist auch der Grund, warum ihr Steuern zahlt, denn in Gottes Auftrag handeln jene, die Steuern einzuziehen haben. Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid, sei es Steuer oder Zoll, sei es Furcht oder Ehre." Hier geht es also nicht um das Nur-Fiskalische, vielmehr wird der Bogen weiter gespannt. Die Steuern werden zu einem Instrument im Sinne und im Dienste des Gelingens von Staat und Gesellschaft.

Allerdings ist Steuerpolitik immer auch in ihrer Rückbezüglichkeit zur staatlichen Aufgabenerfüllung zu sehen. Der Staat greift über die Steuer freiheitsbeschränkend auf das Vermögen und das Einkommen seiner Bürger zu; zugleich hat er die persönliche und wirtschaftliche Freiheit des Individuums zu gewährleisten. Steuerstaat ist Verfassungsstaat! Der Staat darf nicht nur nehmen, er hat auch Dienste zu leisten, die die Gesellschaft zusammenhalten. Das schließt die Pflicht der staatlichen Organe ein, mit den Steuern und Abgaben seiner Bürger schonend, d. h. sparsam, umzugehen und sich vor ihnen für den Umgang mit dem Steuergeld zu rechtfertigen.

Manch einer mag seine persönliche Steuerlast als zu hoch, vielleicht gar als ungerecht empfinden. Und natürlich fragt sich jeder, wenn auch meist bei unterschiedlichen Gelegenheiten: Wofür geben die denn mein Geld aus? Doch ein Recht auf Steuerwiderstand gibt es nicht. Der Staat darf die Verletzung oder Umgehung von Steuergesetzen nicht hinnehmen, wenn er als Rechtsstaat insgesamt glaubwürdig und handlungsfähig bleiben will.

Der demokratische Staat kann ohne das Grundvertrauen seiner Bürger auf Dauer nicht leben. Doch die Festlegung der staatlichen Handlungsfelder liegt allein und ausschließlich in der Entscheidungskompetenz der gewählten Verfassungsorgane. Zum Trost für den zähneknirschend zahlenden Steuer-Bürger: Auch er kann sich rächen. Zwar nicht beim Finanzamt, aber bei der nächsten Wahl.

 

3. Feriensonntag, 7./8. Juli 2007

Ernst Elitz ist Intendant von Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur und lehrt an der Freien Universität Berlin Kultur- und Medienmanagement.

Werturteil? – Embryonenforschung gegen Heilungschancen

„Wenn die technischen Probleme überwunden bzw. lösbar sind –sollen Klonversuche, die Menschen auf lange Frist helfen, verboten bleiben?“

Abscheu erregt der Forscher, der in seinem Labor zwischen Reagenzgläsern und dampfenden Töpfen den geklonten Menschen zusammenschüttelt. Er ist eine Filmfigur. Aber das ist Realität: Im klinisch reinen Labor des 21. Jahrhunderts wird mit embryonalen Zellen gearbeitet, die noch nicht die Gestalt des künftigen Menschen erkennen lassen. „Bloße Zellhaufen unter dem Mikroskop“, sagen die Forscher und versprechen, durch Zellentnahmen aus diesem Gewebe unheilbare Krankheiten aus unserem Leben zu verbannen.

Uns aller erschüttert das Bild des Physikers Stephen Hawking, Forscher und Bestsellerautor, der sein Leben im Rollstuhl verbringt und nur über ein ausgeklügeltes elektronisches System mit seiner Umwelt kommunizieren kann. Er leidet an ALS (amyotropher Lateralsklerose), einer Muskelkrankheit, die zur Zeit ohne Heilungschance ist. Auch im persönlichen Lebensumfeld werden wir mit Schicksalen von Alzheimer-Kranken, dem Leid und der Überforderung ihrer Angehörigen konfrontiert: Parkinson, Diabetes, 1500 Erbkrankheiten – all dies haben die Forscher auf ihrer Agenda und hoffen, diese Krankheiten durch „therapeutisches Klonen“ in Zukunft überwinden zu können.

Mit dem Begriff „therapeutisches Klonen“ grenzen sie sich von den Scharlatanen ab, die alle paar Monate den geklonten Menschen versprechen: Sektenführer und Winkelärzte, die einen PR-Gag brauchen, um auf sich aufmerksam zu machen und ihre Geltungssucht zu befriedigen. Sie wollen das Klonschaf Dolly in Menschengestalt. Das hat schon in der Tierwelt nicht funktioniert. Geklonte Föten leiden bereits bei der Geburt an Übergewicht und sich gezeichnet von Missbildungen, für die der Mediziner noch keine Erklärung hat. Die geklonten Wesen leiden an Herz- und Kreislaufschäden, ihr Immunsystem ist gestört, die Anfälligkeit für Tumore steigt. Für die Tierwelt hat man die Züchtung via Klonen inzwischen als zu ineffizient und zu kostspielig aufgegeben. Wer angesichts des Ausgangs dieser Experimente an das Klonen von Menschen denkt, der – so fasst der Molekularbiologe Eckard Wolf eine Einsicht der Fachwelt zusammen – sei „wahnsinnig“.

Nun ist die Welt nicht frei von Wahnsinn. Das „reproduktive Klonen“, an dessen Ende der reproduzierte Mensch, der menschliche Doppelgänger steht, ist jener Wahnsinn, von dem die Forscher sprechen. Es bedarf keiner Verankerung in der christlichen Religion, um die Einzigartigkeit des Menschen zu verteidigen. Der Mensch vom Fließband, der krankheitsfrei und nach den Schönheitsidealen seiner Epoche designed ist, ist auch jedem nicht christlich geprägten Humanisten ein Greuel. Die Unantastbarkeit des menschlichen Individuums ist eine ethische Grundentscheidung, die über die Weltanschauungsgrenzen und über die Jahrhunderte hinausreicht. Immanuel Kant, der das Wort von der Menschenwürde geprägt hat, empfahl für die Urteilsbildung in moralischen Fragen, ein jeder solle das Problem „an der Stelle jedes anderen“ bedenken, um die Gültigkeit eines Grundsatzes für sich selbst zu beglaubigen. Jeder Mensch will er selbst sein und nicht verwechselbar mit jedem anderen.

Therapeutisches und reproduktives Klonen aber haben ein und dieselbe Quelle. Die gemeinsame Quelle ist dieser „bloße Zellhaufen“. Doch dieser Haufen ist eben mehr als eine zufällige Ansammlung von Biomaterial. Er enthält bereits das Projekt des Menschen und ist eben deshalb schon „Embryo“. Und dieser ursprüngliche Embryo wird durch den Eingrifft in sein Zellgewebe zerstört oder nimmt Schaden. Wer eine Schädigung oder Zerstörung des Lebens in diesem frühen Stadium zum Zweck des therapeutischen Klonens ethisch nicht akzeptiert, muss deshalb kein Gegner des biomedizinischen Fortschritts sein. Denn das therapeutische Klonen ist nur der eine Ansatz zur Gewinnung von vielfach verwendbaren Zellen. Stammzellenpotenziale finden sich auch in rund zwanzig Gewebetypen im Körper des bereits erwachsenen Menschen sowie in der Nabelschnur von Neugeborenen. Die Biomedizin erforscht auch diesen Weg, um ohne Schädigung und Zerstörung von Embryonen Stammzellen zu gewinnen und zu vermehren.

Aber der Zugriff auf Embryonen ist für die Forschung weit einfacher, weil infolge der gesellschaftlichen Akzeptanz der künstlichen Befruchtung inzwischen eine Überfülle tiefgekühlter menschlicher Embryonen existiert, die für eine Schwangerschaft nicht mehr genutzt werden. So zynisch es klingen mag, so macht der Verwendung eines Marktwirtschafts-Vokabulars deutlich, welche Fehlentwicklungen die künstliche Befruchtung genommen hat. Die Massenproduktion menschlicher Embryonen hat dazu geführt, dass das Angebot die Nachfrage übertrifft und sich nur die Frage nach dem weiteren Nutzen der ansonsten nicht mehr verwendbaren Produkte stellt. Die Frage lautet: Auf Dauer bewahren, vernichten oder für die Forschung und damit zum „therapeutischen Klonen“ freigeben?

Ich weiß für mich keine endgültige Antwort, neige aber denen zu, die diese Embryonen den Forschern überlassen wollen. Generell verbietet sich bei diesen existentiellen Problemen jedweder Rigorismus. Menschlich nicht zu verurteilen ist, wer aus Verzweiflung an seiner eigenen Situation der Biomedizin alle Forschungswege eröffnen will. Auch wer einer Abtreibung bei einer erkennbaren gesundheitlichen Schädigung von Mutter oder Kinder oder aus sozial unüberwindbaren Konflikten heraus zugestimmt hat, wird bei einer Selbstbefragung nicht zwangsläufig zum Befürworter des therapeutischen Klonens werden. Zwischen einer individuellen Entscheidung in einer spezifischen Situation und einer generellen Befürwortung des Eingreifens in embryonales Leben liegen Welten.

 

2. Feriensonntag, 30. Juni / 1. Juli 2007

Klaus Kleber war von 1992 bis 2002 Korrespondent in Washington und leitete bis vor kurzem das heute-journal im ZDF.

Wertarbeit? – Geiz ist ...

„Ist es in Ordnung, für 1,99 Euro in Urlaub zu fliegen?“

Auf diese Frage habe ich einmal eine Antwort gehört, sehr laut, sehr deutlich – im prunkvollen Saal des „National Press Club“ in Washington. Auf der Bühne saß der Chef einer amerikanischen Fluggesellschaft, bekannt als einer der brutalen „Shareholder-Value“-Steigerer, zu seinen Füßen die Hauptstadtkorrespondenten – allesamt Vielflieger und als solche keine objektiv-leidenschaftslosen Frager, sondern Partei, die meisten zudem alt genug, um sich noch an die Zeigen großzügiger Spesensätze zu erinnern, als Flugreisen Phasen gepflegter Entspannung waren. Das hatte sich gründlich geändert.

Längst wachten die Pfennigfüchse in allen Medienkonzernen darüber, dass die verwöhnte Journaille billig von A nach B kam. Die Airlines hatten sich darauf eingestellt. Teure Direkt-Verbindungen waren gestrichen worden, ein System aus Luft-Drehkreuzen erhöhte die Profite, zwang aber zu umständlichen Zickzack-Flügen, immer mehr Menschen wurden in die Maschinen gezwängt, ständig fielen Flüge aus, die nicht voll geworden wären. Die Kollegen packten ihre ganze in engen Sitzen aufgestaute Wut in ihre Fragen an den Herrn der Billigflüge. Dem Mann auf dem Podium schwoll sichtlich der Kragen. Schließlich verlor er die Beherrschung. „Ihr seid schuld!“, brüllte er in den Saal. „Ich wäre auch lieber der Chef einer feinen Airline. Aber wenn ich das mache, dann kommt ihr nicht mehr. Wir würden gerne in den fünf Stunden von Washington nach Los Angeles ein anständiges Essen anbieten, aber dann müssten wir fünf Dollar verlangen. Wir haben’s doch probiert. Es funktioniert nicht. Dann werden die Billigeren gebucht. Deshalb kriegt ihr diesen Fraß! Ihr seid die Kunden. Ihr wollt eine Scheiß-Airline. Darum kriegt ihr von mir eine Scheiß-Airline!“

Danach war Ruhe im Saal. Der Mann hatte Recht. Wir sind nämlich wirklich selbst schuld. Wir leben in einer freien Marktwirtschaft. Wir bekommen, was wir bereit sind zu bezahlen. Das bedeutet aber auch, dass wir mit unserer Nachfrage bestimmen, was produziert wird. Und das bedeutet Verantwortung für die Qualität der Produkte, die Qualität der Welt, in der wir leben, den Wert von guter Arbeit, ja für den weiteren Bestand ehrwürdiger Traditionen. Aber wer denkt schon an so was, wenn er die Milch aus dem Regal nimmt? Oder wenn er einen Flug bucht? Die Kollegen im National Press Club wussten bei privaten Reisen durchaus, wie noch ein paar Dollar zu sparen waren.

Die Frage, ob es in Ordnung ist, für den billigsten Preis zu fliegen, hat es in sich. Es ist schwer darüber zu sprechen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, dass man vergessen habe, wie schwer es ist, mit einem deutschen Durchschnitts-Einkommen (oder noch weniger) eine Familie durchzubringen – oder mal in Urlaub zu fliegen. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Wir haben Marktwirtschaft gründlich gelernt. Bei allem, was wir tun, wissen wir sehr genau, ob wir Anbieter oder Nachfrager sind. Einmal drücken wir den Preis bis zur Schmerzgrenze nach unten (als Besteller auf Personal-losen-Internet-Seiten z. B.) und dann – als Anbieter unserer Waren oder Arbeitsleistung – nutzen wir die Spielräume nach oben. Bei beidem sind wir immer raffinierter geworden. So ist eine Wirtschaft entstanden, in der wir als Nachfrager nicht mehr bereit sind, das zu bezahlen, was wir als Anbieter brauchen, um anständig zu bleiben. Wir sind in unserem verflochtenen Wirtschaftsleben nämlich beides – in einem Moment Anbieter, im nächsten Nachfrager – und wechseln atemberaubend schnell die Positionen.

Auf der Strecke bleiben Bauern, die frische Kuhmilch nicht zu dem Preis in die Molkerei bringen können, zu denen Aldi sie fertig verpackt ins Regal stellt, Handwerker, die ihr Gewerbe gelernt haben, Bäcker, die noch backen, statt Fabrik-Rohlinge in den Ofen zu schieben, Wirte, die noch ehrlich kochen. Wir stehen immer auf beiden Seiten. Das macht komischerweise die Antwort einfacher: Wenn wir auch morgen noch in einer Welt leben wollen, in der der Wert menschlicher Arbeit geschätzt wird, in der Brote schmecken, Fleisch nicht vergammelt, Hotels keine gesichtslosen Massen-Absteigen sind, dann müssen wir lernen, unseren Verhältnissen entsprechend zu leben, uns, wie meine Oma immer sagte, „nach der Decke strecken“. Wenn unsere Zehen unten aus der Decke herausragen, weil wir uns nur noch nach Billig-Produkten strecken, dürfen wir uns nicht wundern, wenn’s kalt wird. Vielleicht brauchen wir ja von manchem etwas weniger, das dafür aber in guter Qualität. Und das ist keine Frage, die nur unser eigenes Leben betrifft. Wenn wir immer nur auf Preise achten, bleibt für alle der Wert auf der Strecke.

Bei Flügen mache ich allerdings eine Ausnahme. Die Gesellschaften wissen schon, wie sie kalkulieren. Und außerdem ist es sowie so zu spät. Jedenfalls die „Economy“, in der heutzutage auch die meisten Business-Reisen stattfinden, kommt nie wieder aus der Wertlosigkeit heraus, in die wir uns runtergewirtschaftet haben. Wenn schon schlecht, dann wenigstens billig. Ein Euro neunundneunzig? Das ist es wert!

 

1. Feriensonntag, 23./24. Juni 2007

Katrin Göring-Eckardt ist Mitbegründerin von „Demokratie jetzt“ und „Bündnis 90“ Von 2002 bis 2005 war sie Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, seit Oktober 2005 ist die Vizepräsidentin des deutschen Bundestages.

Wertbeständig? – Vom Sinn der Glaubensgemeinschaft

„Die Kirche hat in ihrer Geschichte so viele Fehler gemacht. Kann ich an Gott glauben, auch ohne Bindung an eine bestimmte Konfession?“

Über Jahrzehnte hinweg war die Kirche die moralische Instanz schlechthin. Sie wies den Menschen den Weg, ihr Wort galt verbindlich und ihre Gebote prägten das gesellschaftliche Miteinander. Heute hat sie diese unbedingte, alleinige Prägekraft verloren, ein Umstand übrigens, den man nicht bedauern muss. Es ist gut, dass wir Traditionen selbstbewusst hinterfragen, es ist gut, dass wir in einer auch religiös pluralen Gesellschaft leben, in der Kirche und Staat getrennt sind. Der Kirche gibt dies die Möglichkeit, sich auf ihren Kernauftrag zu konzentrieren, den sie durch übergroße Nähe zum Staat in der Geschichte allzu oft vernachlässigt hat.

In dieser Situation des relativen Bedeutungsverlustes der Kirche stellen die Menschen gleichzeitig die Frage nach Religion neu. In einer unübersichtlich gewordenen Welt suchen sie Orientierung und verbindliche Werte. Bei aller Hektik des Alltags, Leistungsdruck, Informationsflut und der Fixierung auf materielle Werte bleibt die Sehnsucht nach dem größeren Ganzen, nach dem, was sich mit Geld nicht kaufen lässt. Häufig kommen die Kirchen dabei nicht in den Blick, manchmal wird ihre Bedeutung geradezu verneint, gemäß dem Slogan „Gott ja – Kirche nein“.

Zum Misstrauen der Institution gegenüber tritt ein Individualismus hinzu, der es gewohnt ist, auf dem großen Markt der Möglichkeiten zu wählen, was am besten zu passen scheint. Von Bausteinspiritualität ist die Rede und von Patchworkreligion. Authentizität, ein Grund, der trägt, und Antworten auf Sinnfragen, die nicht beliebig bleiben, werden so jedoch nicht zu finden sein. Religion kann man sich nicht basteln, sie ist kein von Menschen gemachtes Konstrukt. Ohne religiöses Erlebnis, ohne den entscheidenden Moment, in dem man ergriffen ist und ergriffen wird, funktioniert es nicht.

Spiritualität und Glauben sind etwas sehr Persönliches. Aber eine Beziehung zu Gott kann es ohne Gemeinschaft mit den Menschen nicht geben. Allein schon, dass Christen heute glauben, verdanken sie der Weitergabe der Geschichten und Erzählungen, begonnen durch jene, die Jesus begegnet sind, und fortgesetzt durch die Zeiten hindurch. Ohne Kirche bleibt Glaube so kurzlebig wie Schmetterlinge im Bau beim Verliebtsein, ein Ausnahmezustand ohne Dauer. So wie Liebe in den Alltag übersetzt werden muss, um tragfähige Partnerschaft zu sein, wird Glaube zwar institutionisiert, aber trägt durch Formen und Ritus über den Moment hinaus.

Glaube lebt vom Miteinander, von der Übernahme der Rituale von den Alten und der Weitergabe der Gebete an die Kinder, vom Versuch, den Jugendlichen Orientierung zu geben, und von der gemeinsamen Feier des Mahles. Das Erleben von Gemeinschaft ist ein ganz wesentlicher Beitrag, den die Kirchen zum gelingenden Miteinander einer individualisierten Gesellschaft leisten können. Die Erfahrung, dass Menschen füreinander verantwortlich sind, dass sie einander helfen müssen, weil sonst nichts funktioniert, und die Erfahrung, dass jeder Einzelne aufgehoben und wertvoll ist, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und Geldbeutel.

Glaube braucht Heimat, Verortung. Dabei ist es nicht immer leicht, sich in die Gemeinschaft, in ein gewachsenes Ganzes einzufügen. Schwieriger jedenfalls, als unverbindlich zu bleiben, sich nur das Angenehme herauszupicken und sich am Unbequemen nicht zu reiben.

Kirche ist nicht frei von Fehlern. Vor allem wenn die Menschen, die sich in ihr versammelten und jene, die sie leiteten, sich haben blenden lassen vom Streben nach innerweltlicher Macht und von Ideologien oder sich instrumentalisieren ließen, ist Kirche schuldig geworden. Dies muss eingestanden und um Vergebung gebeten werden. Eine fehlerlose Kirche aber wird es auch künftig nicht geben, denn sie ist kein abstraktes Gebilde, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen, also von Menschen, die nicht fehlerlos sind.

Über Form und Struktur von Kirche wird immer wieder zu reden sein. Über den rechten Weg der Nachfolge auch und über Gemeinsames und Trennendes der Konfessionen. Aber ohne Bindung an Kirche, ohne Gemeinschaft ist Glaube nicht lebbar.





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